Nationalmannschaft: Vor Erfolg erblindet

Seitdem die DFB-Frauen bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland nach der Vorrunde den Heimflug antreten mussten, spukt mir der Misserfolg vor allem der DFB-Männer durch den Kopf. Ich versuche mich anzunähern, an den jetzigen Misserfolg, der seinen Ursprung schon im Sommer 2016 hatte. Passend, den heute erscheint die Dokumentation auf Amazon Prime „All or noting“. Das Doku-Team begleitete die Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Katar. Die Einblicke die Journalisten vorab gaben, sind gruselig. Zeit mal das ganze von hinten aufzurollen.

Es gibt zwei Sorten Funktionäre und auch Manager in der freien Wirtschaft. Diejenigen die bescheiden Erfolg einfahren und beharrlich versuchen diese wieder einzufahren, ohne groß überheblich und blind vor Erfolg zu werden. Und dann gibt es diejenigen die nach einem Erfolg so blind sind, dass sie am Eingang des Geschäftsgebäudes mit voller Wucht gegen die Glastüre rennen und dann sich etwas neues einfallen lassen: die Türe muss automatisch aufgehen, weil an mir kann es ja nicht liegen. I´m the world greatest.

Das finale dahoam: trauma und weg zum erfolg

2012 stand der FC Bayern im Champions League-Finale im heimischen Stadion. Gegen Chelsea dominierten die Bayern klar die Partie. Erst kurz vor Schluss brachte Thomas Müller die Bayern in Führung. Der Jubelschrei danach für mich heute noch ein hoch emotionales Bild: alles an Ballast fällt ab. Doch die Freude währte nicht lange, Didier Drogba glich kurz vor Abpfiff aus. Der Rest ist Geschichte. Arjen Robben verschießt in der Verlängerung einen Elfmeter, Bastian Schweinsteiger schießt Elfmeter Nummer fünf an den Pfosten und versucht sich im Trikot unsichtbar zu machen. Diese hochemotionale Pleite ebnete aber auch der deutschen Fußball-Nationalmannschaft den Weg auf den Thorn. 2013 duellierten sich zum ersten Mal in der Champions League zwei deutsche Klubs und das auch noch in der Kathedrale des europäischen Fußballs: Wembley. Dieses Mal war Arjen Robben der Held, er flog durch die Abwehr und erzielte in gefühlter Zeitlupe das entscheidende Tor kurz vor Schluss. Es war ein enges Finale, das an Spannung kaum zu überbieten war. Die Bayern krönten damit ihre Fabelsaison: Triple! Bereits am 28. Spieltag waren sie Deutscher Meister.

Jetzt hatte aber die Generation Lahm-Schweinsteiger noch einen Makel gegen den es anzuspielen galt: der fehlende Weltmeister-Titel.

Die DFB-Elf reiste wieder mit allerlei Problemen nach Brasilien. Verletzungssorgen ohne Ende, Benedikt Höwedes spielte Außenverteidiger, Sami Khedira drückte Wehwehchen, Bastian Schweinsteiger war anfangs gar nicht fit. Keine guten Vorzeichen. Doch das Team kämpfte sich ins Turnier. Die Vorrunde typisch DFB-Elf: Kantersieg, Remis, knapper Sieg. So kannte man das bereits vom Turnier in Südafrika und der Euro 2008 in Österreich und der Schweiz.

Gegen Algerien flog das Team fast raus, gegen Frankreich verwaltete man 85 Minuten ein 1:0 und Manuel Neuers Stahlarm brachten Deutschland ins Halbfinale. Dort vermöbelte das Team historisch den Gastgeber Brasilien mit 7:1. Doch dann mahnte Joachim Löw zur Bescheidenheit. Wenn das Finale in Rio nicht gewonnen wird, ist das 7:1 nett, aber eben auch nicht mehr als ein Kantersieg ohne Wert. Deutschland spielte nicht den besten Fußball im Turnier. Das ist auch nicht wichtig. Denn wer am schönsten spielt, wird selten Weltmeister. Die Fußballhistorie ist reich an Beispielen wo talentierte Mannschaften frühzeitig scheiterten, weil es ihnen einfach an Reife fehlte. Das WM-Finale in Rio war eng, es hätten beide Teams gewinnen können. Aber Deutschland wirkte viel entschlossener und kämpferischer. Und als Argentinien nicht mehr richtig den Fuß ins Spiel bekam, taten sie aber das was sie immer tun: aggressiv den Gegner umnieten, das es nur raucht und kracht. Basti Schweinsteigers blutende Wunde hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, genauso wie das Traumtor von Mario Götze. Beides gehört zusammen. Und so gelang Deutschland endlich das wovon man seit 1990 träumte: der langersehnte vierte Stern.

Philipp Lahm und Basti Schweinsteiger waren an ihrem Höhepunkt der Karriere angelangt. Manuel Neuer war endgültig auf Weltklasse-Niveau angekommen. Anders als 2002 bei Oliver Kahn, kam Deutschland mit ihm ins Finale und nicht nur wegen ihm.

Löws Trauma und der schleichende Abschwung

Der Bayern-Block des Weltmeister-Teams hatte sein Finale-dahoam-Trauma. Joachim Löws Trauma rührt bereits aus 2008. In Wien verlor Deutschland bei der Europameisterschaft das Finale gegen Spanien mit 1:0. Das DFB-Team (später: die Mannschaft) verlor hochverdient. Denn das Team sah nie Land gegen die Kurzpassmaschine Spanien. Selbst die Mentalität die Deutschland ins Finale brachte (Rumpel-Vorrunde, 3:2 gegen Portugal und 3:2 gegen die Türkei) brachte nichts gegen ein drückend überlegenes Spanien. Die englische Zeitung The Mirror schrieb nachdem Sieg: „Für Spanien könnte eine größe Ära beginnen.“ Das kam auch so. Spanien wurde 2010 Weltmeister und verteidigte 2012 den EM-Titel. Nach einigen Dürrejahren ist nun Spanien wieder unter den Top 5 der Welt.

2010 gesellte sich zum Wien-Trauma ein neues für Joachim Löw hinzu. Nachdem er das EM-Halbfinale 2012 gegen Italien vercoachte und Spanien den Titel verteidigte, war es Carlos Puyol der die deutschen WM-Träume 2010 jäh beendete. Bis dahin war Deutschland mit einer unfassbaren Dominanz durch das Turnier geflogen. England und Argentinien wurden mit Kantersiegen aus dem Turnier befördert und Deutschland spielte einen unfassbar effektiven und schönen Offensivfußball, so wie ihn das Team bisher nie und danach nie wieder spielte. Und dann kam wieder Spanien. Joachim Löw und ganz Fußball-Deutschland wollte Revanche für das EM-Finale. Spanien kam mit zwei 1:0-Siegen im Achtel- und Viertelfinale ins Halbfinale. Effektiv, schnöde mit kurzen Pässen. Und in Durban sah das Team kein Land. Die Mannschaft rannte immer hinterher. Ähnlich wie bei einem Schulturnier, wenn die 10. Klasse gegen die 6. Klasse antritt. Außer ein paar Nadelstiche setzen ist da nichts drin. Und so setzte sich das Trauma für Joachim Löw fort. Und dieses Trauma konnte er nie überwinden. Im November 2020 entbrannte zu ersten Mal eine ernsthafte Trainerdiskussion im Land, als Spanien Deutschland mit 6:0 in der Nations League schlug. Löw durfte das Team trotzdem zur Euro-Euro führen.

Doch genau zwischen dem WM-Finale in Rio und dem Achtelfinal-Aus gegen England bei der Euro 2021 passierte etwas, was den Abschwung einleitete.

Erfolg macht blind

Franz Beckenbauer beschwor nachdem WM-Titel 1990 die Unschlagbarkeit der DFB-Elf hervor. Nachdem Deutschland 1982, 1986 und 1990 ins Finale einzog, war das durchaus eine nachvollziehbare Annahme. 1992 in Schweden, wurde Deutschland Vize-Europameister (Niederlage gegen Nachrücker Dänemark), danach folgten aber bittere Jahre, die am Ende im Desaster-Vorrunden-Aus bei der EM 2000 in Belgien und in den Niederlanden mündeten. WM 1994: Viertelfinale, WM 1998: Viertelfinale, Euro 2000: Vorrunde. Einzig die Turniere in England (EM 1996): Titel und in Südkorea und Japan (WM 2002): Vize-Weltmeister waren Ausnahmen. Deutschlands Fußball war im Mittelmaß angekommen. Erkennt jemand vielleicht Parallelen?

2014 wähnte sich der deutsche Fußball ebenfalls auf Wolke 7. Deutsches Champions League-Finale 2013, WM-Titel 2014. Wer soll die deutsche Nationalmannschaft nur stoppen? 2016 bot das Team dann einen biedereren Fußball bei der Euro in Frankreich an. Bieder aber trotzdem erfolgreich, auch dank eines enormen Willens von Kapitän Bastian Schweinsteiger, führte das Team ins Halbfinale. Da war gegen Gastgeber Frankreich Schluss. Frankreich war damals die beste Mannschaft im Turnier, Deutschland schon bisschen über dem Zenith. Aber das Erreichen des Halbfinale überdeckte schon einige Probleme im Team. Deutschland wollte wie Spanien eine goldene Ära prägen und kopierte obendrein auch den Fußball der Spanier.

Das EM-Finale gewann Portugal in der Verlängerung, Frankreich war im Endspiel klar besser. Unvergessen für mich der Pfostentreffer kurz vor Abpfiff von Gignac. Die weitere Entwicklung des Teams ist bekannt…

Frankreich, Italien, Spanien – wir sind Deutschland wir verteidigen den Titel!

Frankreich 1998 Weltmeister, 2002 in der Vorrunde ausgeschieden. Italien 2006 Weltmeister, 2010 in der Vorrunde ausgeschieden. Spanien 2010 Weltmeister, 2014 in der Vorrunde ausgeschieden. Und Deutschland? Würde sowas nie widerfahren. Wieso auch? Aus dem spitznamenlosen Team, für mich war es immer das DFB-Team, wurde aus Marketinggründen „Die Mannschaft“ und weil man so überzeugt war, dass man bis ins Finale in Moskau einzieht, hat man vor den Toren Moskaus gleich sein Teamhotel bezogen. 2017 gewann das Team souverän den Konförderationen-Cup mit vielen jungen Nachwuchshoffnungen. Doch Joachim Löw sah sich nicht in der Lage diese jungen Hoffnungen ausreichend gut ins A-Team zu integrieren. Behäbig, mit viel Ballbesitz (Spanien-Trauma) und wenig Ideen flog Deutschland hochverdient aus dem Turnier. WM-Aus als Titelverteidiger? Das passiert jedem, aber uns nicht. Schon ab der Euro 2016 implementierte Löw ein stark ballbesitzorientierten Fußball im DFB-Team. Vorne mangelte es aber einem guten Mittelstürmer und Kreativität. Für die fehlenden Mittelstürmer kann Löw nichts. Denn 2018 dämmerte allmählich dem deutschen Fußball das im Ausbildungsbereich dringender Handlungsbedarf besteht. Mehr Individualität, mehr Eins gegen Eins, mehr Kreativität und weniger Spieler die in ein System gepresst werden, wurden gefordert. Bis heute hakt es da gewaltig.

Der Turnier-Nimbus war erstmal dahin. Allerdings ereilte Deutschland halt auch ein Schicksal, das was die vorher erwähnten Teams schon ereilte. Doch der DFB machte einfach weiter so. Ein bisschen wie die Politik von Angela Merkel. Wir sehen zwar schon irgendwie Versäumnisse und Handlungsbedarf, aber wir sind Deutschland, wir kriegen das einfach so hin, weil wir halt Deutschland sind. Und es ja eigentlich gut läuft. Vor der Turnier wurde der Vertrag von Löw bereits verlängert. Ein großer Fehler.

Weiter so und ab ins Verderben

2021 war das Erfolgsrezept schließlich. Ich bin Jogi, ich habe Erfahrung, wir kriegen das schon gewuppt und werden endlich nach 1996 wieder Europameister. Wieder präsentierte sich Deutschland bieder im Turnier und kam glücklich ins Achtelfinale gegen England. Dort berief man sich auf den Turnier-Nimbus. Denn bei Turnieren in den letzten Jahrzehnten war das DFB-Team bekannterweise immer da. Wer sich die Kader der Weltmeisterschaften 1982 und 1986 und 2002 ansieht, muss sagen: Ja. Da rumpelte Deutschland wirklich sich ins Finale. Aber am Ende machte halt die Mentalität, der unbedingte Wille gewinnen zu wollen, den Unterschied. England bewunderte uns lange für diese Fähigkeit. Ich sag nur: WM-Halbfinale 1990, EM-Halbfinale 1996 und WM-Achtelfinale 2014. Denn England verfügte oft über gute Spieler, aber brachte es nicht auf den Platz. Mittlerweile hat sich das gedreht, wie die letzten Turniere bewiesen.

Aber zurück zum DFB-Team. Gegen England hieß es dann: Servus! Wir sind wieder raus. Zweites frühe Aus in Folge und nun begann der DFB langsam mit der Aufarbeitung. Löw kündigte vor dem Turnier an: das ist mein letztes Turnier. Und so kam einer mit Stallgeruch: Hansi Flick. Dekoriert mit dem Trip bei den Bayern und dem Beititel: Co-Trainer-Weltmeister 2014. Was wirklich neues war das auch nicht. Flick führte eine bereits gut geformte Truppe zum Triple (was trotzdem eine starke Leistung ist). Und Flick ist auch bekannt, wenn er nicht bekommt, was er will, dann wirft er halt die Papiere hin. Siehe FC Bayern und TSG Hoffenheim.

Auf die WM in Katar gehe ich gar nicht so viel ein. Ich habe wirklich kein einziges Spiel live gesehen. Aber Flick trat ähnlich dünnhäutig und überheblich auf, wie man es sich denken konnte. Das DFB-Team, gespickt mit wirklich guten Spielern, dachte wir kommen schon rein ins Turnier. Doch das Team war ein Schatten seiner Selbst. Es fehlte alles. Kreativität, Kampfgeist, Mentalität. Einzig gegen Spanien stemmte sich das Team lange gut dagegen. Doch das Auftaktspiel gegen Japan führte am Ende ins Verderben. Auch so eine Goldende Regel. Deutschland startet normal immer gut rein, versaut das zweite Spiel und zieht dann seinen Kopf wackelig aber meistens doch souverän im dritten Spiel aus der Schlinge.

Binden-Drama, Katar, Politik, fehlende Unterstützung. Viel wurde rundum dieses Turnier gesprochen. Und natürlich ging das am Team nicht vorbei. Da hat der DFB aber auch mal wieder den Schwanz eingezogen. Anstatt klare Kante zu zeigen: wir machen halt einfach nichts mit Symbolen usw. oder wir machen es trotzdem und kassieren eine Strafe, machte der DFB wenig bis nichts. Der DFB knickte ähnlich wie andere Verbände ein. Die FIFA drohte mit einer Strafe, von der man bis heute nicht weiß, welche es gewesen wäre. Damit war der Schaden und der Druck immens. Und Fußball-Deutschland und auch die mit Fußball sonst nie etwas am Hut haben, redeten über das Katar-Politik-Fußball-Drama. In der Rückbetrachtung muss man sagen, Boykotte haben nie etwas gebracht. Siehe Olympische Spiele in Los Angeles und Moskau. Außer dass die Siegerlisten dann halt die Ost- und Westländer souverän anführten, passierte politisch und beim IOC einfach gar nichts. Die die WM verfolgten, sahen am Ende das beste Endspiel aller Zeiten. Ich sah es nicht, weil ich meinen Boykott durchzog und ihn bis heute nicht bereue. Auch wenn er wehtat.

So und da stehen wir nun. Es wäre zu einfach zu sagen: Flick ist Schuld. Die Misere der deutschen Fußball-Nationalmannschaft ist eine Sache von Überheblichkeit und Missmanagement über Jahre. Es begann schleichend 2015 und bis heute macht der DFB einfach weiter. Doch wir gehören nur noch zum Mittelmaß. Gott sei Dank sind wir 2024 Gastgeber, sonst hätte ich ernsthafte Bedenken ob wir die Qualifikation überhaupt schaffen würden.

Durch das „Weiter so“ hat der DFB auch verpasst einen neuen frischen Bundestrainer zu holen. Wahrscheinlich übernimmt Jürgen Klopp nach seiner Liverpool-Zeit. Alleine seine Art würde schon für einen Aufschwung im Land und auch im Team führen. Für die Euro 2024 bleibt nur zu hoffen, das Hansi Flick in der Lage ist, noch ein Team zu formen, dass wenigstens einigermaßen weit im Turnier kommt. Ich wäre mit dem Viertelfinale wahrscheinlich zufrieden. Zieht man die aktuelle Leistungen zu Rate, wäre ein Überstehen der Vorrunde schon eine große Leistung. Leider ist das Team und das Land nicht an einem Punkt wie 2006. 2004 schied das Team in der Vorrunde der Euro in Portugal aus. Damals standen aber auch schon hoffnungsvolle Spieler wie Podolski und Schweinsteiger im Kader. 2006 entfachte Jürgen Klinsmann dann mit einem offensiven Kampffußball eine große Euphorie-Welle im Land. Doch damals lag der Fußball am Boden und der DFB zeigte Mut und das DFB-Team tat das, was es in den letzten Jahrzehnten so oft tat: Turnier-Fußball zeigen. Doch Turnier-Fußball ist etwas, was man mit Leben füllen muss. Reden reicht alleine nicht. Die Mannschaft muss man die Antworten auf dem Platz geben. Und dann kommt auch die Euphorie wieder zurück. Vor Deutschlands Team müssen den Gegnern die Beine schlackern. Weil sie entschlossen sind, kämpfen, alles raushauen und guten Fußball auf den Platz bringen. Und nicht weil wir vier Sterne auf dem Trikot haben.

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